Gliederung

 

 

Ikonographie

 

Die wesentlichsten Fragen zum Hirsauer „Mönch“ gelten wohl seiner Identität: Wer ist der Dargestellte? Lässt er sich benennen? Ist es möglich, nur anhand der Kleidung Rückschlüsse auf seinen gesellschaftlichen Stand zu ziehen? Handelt es sich trotz fehlender Merkmale wie Tonsur, Kapuze und Gürtel vielleicht doch um einen Mönch oder einen Novizen? Ist er stellvertretend für den Konvent abgebildet? Welchen Sinn hatte die Proskynese?

 

Bei den oben genannten Objekten, die als formale Vergleichsbeispiele herangezogen wurden, hat man die knienden Beter als Gründer und Wohltäter des Klosters oder des Gebäudes sowie als Stifter oder Meister des jeweiligen Objekts gedeutet: So werden in den vier anbetenden Kuttenträgern auf der Brunnenschale von St. Ulrich (um 1110/20), die einst vermutlich im Kreuzgang des Priorats gestanden hat, „die Meister oder Stifter des Werkes“ gesehen Abb..62 Ob die vermeintlichen Auftraggeber der ungewöhnlich großen Schale dem Konvent des Cluniazenserpriorats, das um 1087 von dem aus Regensburg stammenden Mönch Ulrich von Cluny von Grüningen ins Möhlintal verlegt worden war,63 angehört haben oder einer anderen Klostergemeinschaft, wird nicht erörtert.

 

Die knienden Assistenzfiguren am Tympanon von Alpirsbach (um 1150), die mit einer Mönchskutte und dem Gewand einer Nonne oder einer verheirateten Frau bekleidet sind64 und zu Seiten Christi ihre Hände anbetend erhoben haben, werden als der Klostergründer Adalbert von Zollern und dessen Ehefrau gedeutet, da Adalbert, einer der drei Stifter des 1095 gegründeten Klosters, dem Konvent beigetreten war Abb.. Da seine Nachfahren, die Grafen von Zollern, zur Entstehungszeit des Tympanons Vögte des Klosters Alpirsbach waren, werden sie als Auftraggeber in Erwägung gezogen. Mit der Darstellung ihrer Vorfahren und Klostergründer über dem Kirchenportal könnten sie ihren Anspruch auf die Schutzvogtei zum Ausdruck gebracht65 oder ihren Vorfahren ein Denkmal gesetzt haben.66

 

Am Tympanon der Pfarrkirche von Laître-sous-Amance67 in Lothringen (um 1140/50), einem ehemaligen Priorat des Benediktinerklosters St-Mihiel/Meuse68, knien – soweit dieses in Anbetracht der schwer beschädigten Köpfe zu erkennen ist – zwei Gestalten69, zwei bärtige Männer70 oder ein Mann und eine Frau71 in wadenlangen, gegürteten Gewändern und Umhängen mit zum Gebet erhobenen Händen hinter zwei stehenden Engeln, die einen thronenden Christus im Zentrum anbeten. Zwei weitere Figuren, laut Müller-Dietrich die Ehefrauen der Knienden, sitzen über den Kämpfern an der mittleren Archivolte. In den Dargestellten am Tympanon werden Stifter vermutet, deren Kleidung, die sich nur geringfügig von der der Engel unterscheidet, als schlicht72 oder als ostentativer Ausdruck gehobener Standeszugehörigkeit interpretiert wird.73 In Erwägung gezogen werden Louis de Montbéliard, der Ehemann von Sophie de Bar, die die Kirche 1076 gegründet hatte, sowie Frédéric de Ferrette, ein Nachfahr von Sophie de Bar, der die Kirche im 12. Jahrhundert dem Kloster St-Mihiel übergeben hat und vermutlich erneuern ließ. Obwohl der Ehemann von Sophie de Bar in den überlieferten Schriftquellen zur Kirchengründung von Laître überhaupt nicht erwähnt wird,74 soll er mit seinem Nachfahren oder seiner Ehefrau im Tympanon wiedergegeben sein. Hubert Collin gibt zu bedenken, dass Stifter vermehrt am Ende des Mittelalters auf den Monumenten abgebildet wurden.75

 

Zwei ungleiche bärtige Kniefiguren flankieren am Tympanon der Ägidiuskirche von St. Ilgen76 (1180 / 90), einer ehemaligen Propsteikirche des Klosters Sinsheim, den thronenden Christus im Zentrum. Während die rechte Gestalt mit Tonsur, gegürteter Tunika und einem Krummstab, den sie mit beiden Händen umfasst, als Kleriker gekennzeichnet ist, scheint es sich bei der Linken, die anbetend die Hände erhoben hat und keine entsprechenden Merkmale aufweist, um einen Laien zu handeln. In der rechten Figur wird Abt Johannes gesehen,77 in dessen Amtszeit (1158–70) das kleine Kloster erbaut wurde, oder der Kirchenpatron Ägidius – nach einer Legende der erste Abt des von ihm gegründeten Klosters Saint-Gilles in Südfrank­reich –, der Fürbitte beim Gottessohn für die Gläubigen einlegt und wegen der Wirksamkeit seiner Fürbitten besonders verehrt wurde.78 Die linke Gestalt wird als geistlicher oder weltlicher Stifter des Klosters gedeutet, dessen Name in den Quellen jedoch nicht überliefert ist,79 oder als reuiger Büßer, der um Vergebung seiner Sünden bittet.

 

In Büdingen soll es sich bei den beiden knienden Männern, die sich dem Kreuz im Zentrum des Tympanons der Burgkapelle (spätes 12. Jahrhundert) anbetend zuwenden, um Mönche80 oder um die zu dieser Zeit in Frage kommenden Bauherren und Stifter der staufischen Wasserburg, Hermann und Hartmann von Büdingen,81 handeln, deren Sohn und Neffe Gerlach II. von Büdingen zu ihrem Gedenken und ihrem Seelenheil das Tympanon habe anfertigen lassen, da sie angeblich vom Kreuzzug Heinrichs VI. nicht zurückgekehrt seien.82

 

Handelt es sich in Analogie zu diesen Beispielen demnach bei der Hirsauer Figur – unabhängig von ihrem ehemaligen Anbringungsort – um ein Abbild des Hirsauer Klostergründers Erlafried, des Neugründers Adalbert von Calw83 oder gar des Abtes Wilhelm von Hirsau84, dem eine weitere Gestalt zu Seiten Christi „gegenüberstand“? Zieht man die überlieferten Schriftquellen zur Interpretation heran, insbesondere einen der beiden Gründungsberichte im Codex Hirsaugiensis (fol. 2a/b), in dem „die Eigenklosterherren und in Sonderheit Adalbert von Calw selbst mit harten Worten für den Niedergang des Klosters verantwortlich gemacht werden“85 und der von Hermann Jakobs ins frühe 12. Jahrhundert datiert wird,86 somit in die Zeit des Hirsauer Fragments, dann erscheint es kaum wahrscheinlich, dass der amtierende Abt Bruno (1105–1120) dem umstrittenen Klosterneugründer Adalbert von Calw ein ehrendes Abbild am Kircheneingang gewährt hat. Über diesen Gründungsbericht hinaus lässt der erhaltene Bestand an Schriftquellen und Denkmälern nach den Ausführungen von Renate Neumüllers-Klauser darauf schließen, dass sich das Stiftergedenken in Hirsau in erster Linie auf die Klostergründung bezog und nicht auf die weltlichen Stifter.87

 

Bei anderen der oben genannten Vergleichsbeispiele finden sich in der Literatur lediglich Angaben zum gesellschaftlichen Stand der Dargestellten oder zu ihrer Beziehung zum Objekt als Auftraggeber der Skulptur oder Gründer des Klosters. Es wurden aber keine konkreten Namen der Dargestellten erwogen.

 

Am Tympanon von Meistratz­heim/El­sass88 (frühes 13. Jahrhundert) thronen Christus und zwei Heilige – ein Bischof mit Buch und Stab sowie einer Schlange unter seinen Füßen und vielleicht eine Frau, die die Hände anbetend erhoben hat ­– unter einer dreibogigen Blendarkatur. Die Dreiergruppe wird flankiert von zwei betenden Gestalten, die in den Zwickeln des Bogenfeldes knien. Diese tragen zwar keine Kutte, sondern nur bodenlange Gewänder, aber wegen ihrer tonsurierten Köpfe ist mit Joseph Foesser zu vermuten, dass es sich um zwei Mönche handelt,89 die von Robert Will als Stifter interpretiert wurden.90

 

Zu Füßen des thronenden und von zwei Engeln umgebenen Christus am Tympanon der Klosterkirche von St. Paul im Lavanttal/Kärnten91 (um 1210/20) kauern zwei anbetende Figuren, in denen der Klosterpatron, der Apostel Paulus, und der Abt des Klosters vermutet wurden Abb..92 Während der Heilige zur Linken Christi durch einen Heiligenschein gekennzeichnet ist, weist der vermeintliche Abt auf der gegenüberliegenden Seite mit Tonsur und einem gegürteten Gewand mit flach aufliegender Kapuze lediglich Merkmale eines Mönchs auf.

 

Eine ähnlich erweiterte Komposition findet sich am Tympanon des nördlichen Querhauses der ehemaligen Klosterkirche St-Pierre-et-St-Paul in Neuwiller-lès-Saverne/Elsass93 (um 1250). Hier thront der segnende Christus zwischen schwebenden Engeln unter einer Dreipassarkade Abb.. In den Ecken des Bogenfeldes stehen die Kirchenpatrone Petrus und Paulus unter Arkaden. Rechts und links des Thronenden – unterhalb der Engel – knien zwei anbetende Mönche, die auch hier von Robert Will als Stifter gedeutet wurden. Beide tragen eine Tonsur, doch während der Rechte mit einer einfachen Mönchskutte bekleidet ist, wirkt das Gewand des Linken mit einer Knopfleiste über der Brust kostbarer. Eine Krümme im Hintergrund, die dieser mit seinen Händen zu umfassen scheint, lässt in ihm den Abt des Klosters vermuten.

 

23 La Charite sur Loire ba
La Charité-sur-Loire, ehem. Prioratskirche:Marientympanon im nördlichen Westturm (Bild: Autorin)

Abweichend von der gängigen Auffassung der knienden oder prosternierenden Betfigur als Stifter wurden die Mönche an dem um 1130 entstandenen Marientympanon von La Charité-sur-Loire/Nièvre gedeutet (oben).94 Auf dem Bogenfeld, das in der unteren Hälfte schwer beschädigt ist, umgeben zwei – ursprünglich vielleicht auch vier95 – auf Knien betende Ordensmänner in Kutten eine Figurengruppe mit dem thronenden Christus in der Mandorla, der sich der stehenden Maria zu seiner Linken zuwendet. Auf der anderen Seite des Gottessohnes stehen zwei Engel, von denen der eine die Mandorla und der andere einen Kreuzstab hält. Während der Mönch zu Füßen der Engel auf dem Boden zu knien scheint, schwebt offenbar der gegenüberliegende hinter der Gottesmutter. Die Dar­stellung wurde wegen ihrer ungewöhnlichen Ikonographie als Glorifikation96, Krönung97, Aufnahme98 oder Fürbitte99 der Muttergottes interpretiert: Maria erwirkt die Segnung und die Aufnahme des Ordens von Cluny oder des Priorats von La Charité bei Christus100 oder führt einen Mönchsheiligen vor den Thron Christi.101 Die betenden Mönche wurden dabei nicht nur als Abbilder konkreter Personen gedeutet, als Hugo von Cluny, Bischof Geoffroy von Auxerre und Prior Gerhard102, als verstorbene Grün­der und amtierender Prior von La Charité103 oder als Mönchs­heiliger104, sondern auch als Repräsentanten des Ordens von Cluny105 oder der Menschheit106.

 

Tatsächlich lassen verschiedene Merkmale, die die genannten Vergleichsbeispiele gemeinsam haben, Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei Betfiguren zwangsläufig um die Gründer des Klosters oder die Stifter des Werks handeln muss. Bemerkenswert ist, dass keine der Gestalten namentlich benannt ist – wie das in der Buchmalerei fast die Regel ist –, dass die Dargestellten kein Kirchenmodell oder ein anderes Dedikationsobjekt in den Händen halten – wie beispielsweise Abt Heinrich am Westportal der ehemaligen Stiftskirche in Millstatt/Kärnten107 – und dass die Kutten- und/oder Ton­surträger überwiegend paarweise abgebildet sind.

 

Am auffallendsten ist, dass diese betenden Mönche nicht klein und unscheinbar auftreten, wie man das von einem demütigen Stifter erwarten würde, sondern dass sie zusammen und auf gleicher Höhe mit Engeln begegnen, mit denen sie an einer feier­lichen Messe im Himmel teilzunehmen scheinen, bei der die Engel wie Liturgen die Mandorla mit dem thronenden Christus wie eine Hostie halten – so in Alpirsbach Abb. und La Charité-sur-Loire Abb. – oder dem Hohenpriester Christus huldigend das Weihrauchfass schwenken – so in St. Paul im Lavanttal Abb. und Neuwiller-lès-Saverne Abb.108. Gelegentlich nehmen die Mönche sogar den Platz von Engeln ein, wenn sie wie bei der Anbetung der Maiestas Domini im Gebetbuch Ottos III. (unten) die Mandorla mit dem thronenden Christus tragen109 – so auf der Brunnenschale von St. Ulrich Abb..

 

25 sog Gebetbuch Ottos III ba Christus in einer von Engeln gehaltenen Mandorla im Gebetbuch Ottos III. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30111, fol. 21r
(Bild: Gebetbuch Ottos III., Abb. 9)

 

Gemeinsam mit dem Hirsauer Fragment ist darüber hinaus allen genannten Vergleichsbeispielen – mit Ausnahme des Tympanons von Büdingen –, dass sie von Kloster-, Priorats- oder Pfarrkirchen stammen, die der benediktinischen Reformbewegung des 11. und 12. Jahrhunderts angehörten: St. Ulrich und La Charité-sur-Loire waren Priorate von Cluny110; Alpirsbach war durch das fruttuarisch geprägte Reformkloster St. Blasien gegründet worden und mit der Abtei durch eine Gebetsverbrüderung verbunden geblieben111; Laître-sous-Amance war ein Priorat von St-Mihiel an der Maas in Lothringen, einem Reformkloster, das in enger Verbindungen zu St-Vanne in Verdun stand und dessen cluniazensisch-gorzische Gewohnheiten übernommen hatte112; St. Ilgen war eine kleine Propstei des Klosters Sinsheim, das der von Fruttuaria übernommenen Reformbewegung von Siegburg angehörte113; die Pfarrkirche St. Andreas im elsässischen Meistratzheim ist wahrscheinlich von dem zwischen Etival und Senones in den Vogesen gelegenen cluniazensischen Reformkloster Moyenmoutier114 erbaut worden, da die Abtei zur Bauzeit der Kirche im frühen 13. Jahrhundert vermutlich alleine das Patronat ausübte und zehntberechtigt war115; das Benediktinerkloster St. Paul im Lavanttal war auf Bitten seines Stifters Engelbert von Spanheim, eines Anhängers Papst Gregors VII., bei seiner Gründung 1091 durch Mönche und den designierten Abt Wezilo aus Hirsau besiedelt worden116; das Benediktinerkloster St-Pierre-et-St-Paul in Neuwiller-lès-Saverne im Elsass, das im 8. Jahrhundert von dem Metzer Bischof Sigisbald (716–742) gegründet worden war und bis ins 12. Jahrhundert zum Bistum Metz gehörte, war vermutlich um 1000 zunächst von Abt Mainhard aus Gorze und 1029 im Rahmen der frühen lothringischen Mischobservanz durch Abt Theoderich reformiert worden, den der Kirchenreformer Poppo von Stablo eingesetzt hatte.117

 

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